Blog - Im Gespräch mit...

Christoph Ehrenfellner

Der gebürtige Österreicher Christoph Ehrenfellner ist im Südharz kein Unbekannter mehr: In den Jahren 2016 bis 2019 wirkte er als Composer in Residence am TN LOS! und schuf in der Zeit bereits eine Ballettmusik für das Ballett TN LOS! (»Die Kraniche des Ibykus«), eine Sinfonie für das Loh-Orchester Sondershausen (Sinfonie Nr. 1, »Luther-Sinfonie«) sowie ein Bühnenstück für das Junge Theater (»Die Verwandlung«). Auch der bewegende Einakter »Kain und Abel« entstand eigens für das Theater Nordhausen. Das Libretto schrieben Anja Eisner und Daniel Klajner. Sie entwickelten aus der knapp erzählten biblischen Geschichte ein ergreifendes Familiendrama.

 

Worum geht es dir im Kern der Geschichte von Kain und Abel?

In der Bibel ist der Konflikt zwischen Kain und Abel eine sehr dunkle Geschichte um Neid und Missgunst, die den Brudermörder brandmarken soll. Die katholische Theologie hebt dabei die Unergründlichkeit von Gottes Willen für den Menschen hervor, wo es um willkürliche Ablehnung von Kains Opfer geht. Kain nimmt dieses ihn vernichtende Urteil Gottes nicht demütig an. Stattdessen kehrt er seine »böse« Seite hervor und tötet den Bruder. Dieser Mord scheint das ungleiche Urteil über die Opfer der beiden Brüder im Nachhinein als richtig zu bestätigen, quasi ein: »Seht her, wie ich Allwissender den bösen Kain entlarvt habe!«

In der heutigen Zeit ist das, finde ich, eine sehr problematische Botschaft, und es hätte mich überhaupt nicht befriedigt, auf dieser Welle eine moderne Oper zu schreiben. Da finde ich es viel spannender, dass die Librettisten durch einen einfachen Tausch von Gott und Vater diesen Fokus von einer theologischen Übergeschichte hin zu einer realen Familiengeschichte und -dynamik verlagern. Kain hatte als Erstgeborener eventuell ziemlich gute Gründe für seine Eifersucht. Was könnte da also zuvor passiert sein?

Der Vater im patriarchalen Gefüge ist übermächtig, und durch seine Willkür kommt die Katastrophe in diese Familie. Das ist, was der Text und die Musik in aller Drastik hier erzählen.

 

Inwiefern spürt man das in deiner Musik?

Die Frage, wie sich Übermacht und Willkür eines despotischen Vaters anfühlen, findet in der Musik vielerlei Antworten, zuallererst in der Motivik. Bei mir ist es dieser markante Moll-Sextakkord abwärts, der als Vatermotiv die Oper markant durchzieht. Das ist sehr bewusst so geformt: von oben nach unten, hart, wuchtig, brutal, hässlich, dunkel, in Moll, ein richtiger »Reindrücker«, der den Tyrannen spürbar macht. Im Zusammenhang der Geschichte gerät das aber fast zum Nebenstrang, denn der Fokus geht ganz bewusst auf die Mutter von Kain und Abel, auf Eva. Das ist etwas Schönes, Wichtiges, das ist etwas, was uns im 21. Jahrhundert weiterbringt, nun endlich die Perspektive der Frau zu sehen, der Mutter, die in der ganzen Tragödie mittendrin sitzt und die als sozialer Angelpunkt der Familie am schlimmsten leidet. Die Oper hat sich losgelöst vom biblischen Mythos. Wir schauen nicht mehr nur auf den Vater und meditieren über seine ach so wunderbare Unergründlichkeit, sondern wir schauen auf die Mutter, auf die Brüder, auf die ganze Familie. Diesen Grundzugang zur Geschichte habe ich umgesetzt.

 

Du hast dich als Komponist der Geschichte über eine Musik angenähert, die in ihren Grundzügen auf die klassisch-romantische Musiktradition bezogen ist. Es ist eine Musik mit einem sehr starkem Erzählcharakter.

Auf der Ebene der Psychologie hat es aus meiner Sicht in der Operngeschichte nichts Effizienteres gegeben als die Wagner’sche Leitmotivtechnik, die von Richard Strauss bis über die tonalen Grenzen hinausgeführt und von Alban Berg bis ins serielle Komponieren hineingeflickt wurde. Wagner führt uns auf dem Silbertablett vor, wie man Gedanken in die Musik legen kann, ohne dass ein Sänger ein Wort verliert! Für mich ist klar, dass ich mich bei einem komprimierten Psychodrama dieser Art dann auch derjenigen Erzählart bediene, die die effizientesten Möglichkeiten hat, dieses zu schildern.

Bei meiner Arbeit an der Oper hatte ich speziell »Elektra« von Richard Strauss auf dem Tisch. Natürlich ist meine Musik anders, sie klingt nach Ehrenfellner, wir leben ja in einer anderen Zeit: Mal gehe ich über »Elektra« hinaus, mal gehe ich gar nicht so weit, aus den verschiedensten Gründen. Was mich beim Komponieren leitet ist weniger eine Strategie, sondern vielmehr das Gefühl, mein Instinkt als Musiker und Opernkomponist.

Es mag einer sagen: Ehrenfellner hat hier eine Oper hingelegt, die auf eine Weise traditionell wirkt, sehr übersichtlich gebaut ist, sich bei Wagner und Strauss einhängt. Dem steht auf anderen Ebenen eine enorme Komplexität gegenüber. Vor allem ist es die Ebene der Harmonie. Cis-Moll ist eine Haupttonart der Oper, sie steht am Beginn. Es ist die Tonart von Evas klagendem Motto, ihrem Mantra-artigen »Wehe« in der fallenden Quinte, die Tonart des größten Schmerzes. C-Moll ist die Tonart des Todes (immer schon gewesen!) und das Ende der Oper. Also, es gibt zwar Grundtonarten, aber kaum Stabilität innerhalb eines Grundtones. Ich kann mit dem Reichtum, den die Harmonik heute eröffnet, ja ganz anders spielen. Die Bewegung der Harmonie ist gewandt, weniger schematisch als in alten Zeiten. Ich bin im 21. Jahrhundert nicht gezwungen, eine stabile Linie einzuziehen und zu sagen: Ok, ich hab in cis-Moll begonnen, jetzt muss ich in cis-Moll aufhören. Ist nicht! Und kein Mensch stößt sich daran. Ohnedies habe ich einen harmonischen Kosmos eröffnet, der vom blanken Dur-Akkord bis zur Freitonalität geht. Ich bewege mich stets ganz dicht an meinem Gefühlsinstinkt. Die Kunst der tonalen Mischung ist, zu spüren, welche Harmonie, welcher Durchgang in der Seele des Hörers was bewirkt. Wenn man von vertrackten Verhältnissen redet, so wie in unserer Oper, dann kann man eben fühlbar verzwickte harmonische Situationen schaffen, und wenn man von etwas ganz Glasklarem redet, dann muss man eben harmonisch definiert sein.

Exemplarisch kann man sich in unserer Oper auch die Harmonien anschauen, die man hört, wenn der Vater zum ersten Mal singt. Da stehen die Harmonien wie Säulen um den Tempel – regelmäßig und farblich in unveränderlichem Strahl. Ohne sich beirren zu lassen geht der Vater seinen ruhigen Rhythmus: Der hat keinen Stress, der ist über alles erhaben. Sein »genetischer Code«, seine ureigenen Charakterzüge sind also einzig und allein durch die Harmonie definiert. Sie lässt spüren, welche Dimension der Vater hat, dass er neben echter väterlicher Liebe auch zu Gewalttaten bereit ist, eine steinerne Faust hat. Im Gesang beginnt er in der Sphäre cis-Moll, etwas Düstereres kann man sich fast nicht vorstellen, er ist wie eine Steinstatue, vom Vollmond beleuchtet.

 

Du ordnest ja, wie du schon angedeutet hast, jeder Figur der Geschichte eine ganz bestimmte Musik zu, die es dir möglich macht, die Geschichte zu erzählen. Kannst du das noch etwas mehr erläutern?

Eigentlich sind die meisten Themen bereits in den ersten fünf Takten enthalten: Evas Hilfeschrei in einer aufsteigenden Sexte der ersten zwei Töne, die das Drama eröffnen, sogleich die Gegenbewegung abwärts in die tiefsten Lagen; dann die Figur des Vaters in den Trompeten und wieder der Schrei Evas. Auch wenn man nichts über Musik und Schmerzsymbolik weiß, spürt man, dass es um Schmerz, um furchtbare Zusammenhänge, um einen Hilferuf geht. Mit der fallenden Quinte bereitet die hereinstürzende Eva ihr Hauptmotiv, ihr »Wehe« in cis-Moll, vor, das erste Mal zu hören gleich in Takt 8.

Die Frage, wie sich die Übermacht und Willkür des Vaters anfühlen, findet bei mir auch in der Motivik eine Antwort. Das Vatermotiv, die Willkür, ist dieser markante Moll-Sextakkord abwärts.

Kain und Abel sind in meiner Musik kontrastierend angelegt. Abel, der Schafhirte, ist mit einer Hirtenflöte unterwegs. Die idyllische Natur als seine Sphäre lässt sich am schönsten mit impressionistischen Mitteln darstellen. Und natürlich ist Abels Thema, das nach dem Prolog die eigentliche Geschichte eröffnet, ein Flötenthema. Die Flöte ist leichtgewichtig, macht die Luft schweben. Diese Leichtigkeit drückt sich in Details des Themas aus, in der Rhythmisierung etwa, auch in seiner verspielten Verzierung. Die Identität des Vaters, also der »genetische Code«, findet sich in der Musik beider Brüder: In Abels Thema steckt die Krebs-Spiegelung des Vaters, der fallende Quartsextakkord. Bei Kain hingegen ist das thematische »Erbgut« rätselhafter, doch immer dem väterlichen Sextakkord nahe.

Kain steht im Feld. Das Feld ist Erde, die Erde ist schwer, ist tief unten. Mit der Erde hat man immer Mühe. Und wie geht Mühe in der Musik? Sie kommt von unten nach oben, gräbt herum, wie Kains Leitmotiv. Dieser Kain hat Erdstiefel an, an denen so viel Lehm und Dreck klebt. Er ist ein kräftiger Knabe, der Feldarbeit gewöhnt, aber von Grund auf positiv ist. Die Essenz dieses Menschen ist in sein Hauptthema gepackt.

Kain hat diese riesige große Eintrittsszene mit Abel. Abel darf Vokalisen singen mit seiner Motivik.

Kain erzählt im Wesentlichen von sich, und von seiner Beziehung zum Vater. In dieser Erzählung merkt man, dass er Schlagseite hat, dass er etwas abgekriegt hat. Jedes Mal, wenn er »Vater« singt, stockt er. Ich habe das aber so dezent gemacht, dass er trotz allem jedenfalls ein unglaublicher Kerl ist.

Videns zuletzt, die Sprechrolle, kommt in der Musik natürlich nicht vor. Die Musik schweigt ja, wenn er spricht. Er bleibt ein Zuseher, ein Betrachter neben dem Publikum, ein Bewertender, der dem Stück eine zusätzliche Perspektive des Logos gibt, die Dinge für uns verbal auf den Punkt bringt.

 

Wie gehst du beim Komponieren vor? Legst du dir die Motive und die Klangwelten vorher zurecht?

Irgendwie ist es ein Mysterium. Ich kann nicht vorher am Reißbrett eine Entscheidung treffen und sagen: Das muss so sein, und das muss so sein. Aber bevor ich bereit bin, irgendeinen Ton zu schreiben, habe ich in einem wochenlangen Prozess das Libretto verinnerlicht. Die Proportionen der einzelnen Sequenzen und die Personen entstehen langsam. Es muss zuerst klar sein, wie die ganze Geschichte geht, wovon sie spricht, was da drinnen sein muss, wie die einzelnen Personen sind, welche Art sie haben, welchen Charakter, welchen »genetischen Code«. Indem ich mich darein versenke und mich ans Klavier setze, kommen die Themen. Themensuche ist ein Prozess. Bis es sich verdichtet verwerfe ich auch schon mal zehn Versuche bis der elfte wirklich gut ist. Dann ist es eine mit Worten kaum zu beschreibende Mischung aus Traum und Wachen. Es ist ein blinder Tastgang mit Ahnung, mit sechstem Sinn und mit scharfem Instinkt. Als Komponist muss man spüren: Sitzt das, drückt es das aus, was ich sagen will, oder nicht? Wenn nicht, dann muss man weitersuchen. Wenn ich etwa das Gefühl habe, dass das Thema sitzt, dann fängt die Erzählung an zu fließen. Im Fluss spürt man auch, wo man hinkommt, wo man hin muss. Komponieren in dieser Kunstform bedeutet, innerhalb der relativ knappen Zeit für ein Szenario oder für einen Einakter wirklich Strecken hinzulegen, in denen klar und deutlich gesprochen und thematisiert wird. Es ist die Fähigkeit zu antizipieren, zu verstehen, welches Material wie weit trägt. Man muss wie ein guter Schachspieler vorausdenken und vorausschauen und dann genau spüren: Sitzt der Schritt?

 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

(Das Gespräch führte Juliane Hirschmann.)

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